Kurzbiografie lesen

Vladimir Kachalov

Über die Blockade

Unsere Maßnahmen zur Verteidigung der Stadt waren einfach, im Rahmen unserer Möglichkeiten. Wir haben Panzerabwehrgräben gegraben, die so genannten Schlitze – das waren Gräben, die mit Balken abgedeckt waren, in denen sich die Bevölkerung verstecken musste, wenn ein Luftalarm angekündigt wurde. Wir haben natürlich Panzerabwehrgräben gegraben, […], aber es stellte sich heraus, dass aufgrund des Unwissens des Verantwortlichen für diese Arbeiten der Graben in die falsche Richtung gegraben worden war. Glücklicherweise fuhren die Panzer aus irgendeinem Grund nicht bis zu unserer Grenze und bewegten sich, nachdem sie Sestroretsk umgangen hatten, weiter in Richtung Leningrad. Und wir mussten mit ein paar Säcken in den Händen zurück nach Leningrad fliehen, anstatt evakuiert zu werden.

“Bis heute erinnere ich mich an das Klirren der Panzerketten.”

Wegen des Vorrückens der deutschen Truppen kehrten wir nach Leningrad zurück. Und da unser Haus, in dem wir wohnten, durch eine Bombe zerstört worden war, kamen wir bei dem Bruder meines Vaters unter. Die Hungerzeit kam recht schnell, vor allem nachdem die Badaev-Lagerhäuser1 niedergebrannt waren. Das waren die Lagerhäuser, in denen die Lebensmittel gelagert wurden. Sofort sank die Tagesration2 von Brot von 200 Gramm auf 175 Gramm, dann auf 150 Gramm und schließlich auf 125 Gramm Brot, das natürlich fast kein Mehl enthielt. Es bestand aus allen möglichen essbaren, aber nicht brotähnlichen Substanzen. Solange wir noch laufen konnten, haben wir alles getan, was unsere Familie, die damals aus meiner Mutter, meiner Großmutter und mir bestand, tun konnte. Da mein Vater bereits an der Leningrader Front war, studierte mein Bruder an einer Fliegerschule und bereitete sich darauf vor, Militärpilot zu werden.

Wir blieben bei dem Bruder meines Vaters und versuchten, unsere Stadt so gut wie möglich zu verteidigen. Mutter wurde im Krankenhaus eingesetzt, da sie eine nicht abgeschlossene medizinische Grundausbildung hatte. Großmutter konnte natürlich nicht mehr arbeiten, und ich, sowie meine Freunde, meine Gleichaltrigen, waren nachts auf den Straßen im Einsatz, um die sogenannten raketčiki, (Raketenmänner) zu finden. Raketenmänner waren entweder Spione oder Verräter, die mit Raketenwerfern in der Hand um strategische Objekte kreisten. Strategische Objekte waren militärische Fabriken, und nachts warfen sie Raketen ab, um den deutschen Bombern mitzuteilen, wo sie ihre Bomben abwerfen sollten. Wenn wir eine solche Person sahen oder vermuteten, dass es sich um eine solche Person handelte, mussten wir dies der Polizei melden, und sie musste diesen Raketenmann fassen und liquidieren.

Wir mussten auch Brandbomben löschen.3 Wir hatten Dienst auf Dächern, auf Dachböden, und wenn eine Bombe ein Dach, einen Dachboden traf, mussten wir sie löschen. Es gab Kisten mit Sand und große Eisenzangen. Man musste die Bombe, es war meistens eine kleine Brandbombe, nehmen und sie in diesen Sandkasten werfen, oder man konnte sie aus dem Dachfenster werfen. Aber es stellte sich heraus, dass es nicht so einfach war, wie man es uns beigebracht hatte. Denn der Blitz war so hell, dass er uns sofort blendete und es fast unmöglich war, zu erkennen, wo die Bombe war und sie am Ende zu packen und nicht an der Stelle, an der sie brannte.

Bei den Panzerkanonieren

Dann war da noch die Geschichte mit der Panzerkolonne, die nach Leningrad durchbrechen sollte. Wir gingen kaum noch zur Schule. Es waren nur noch wenige von uns in der Klasse. Zuerst waren es noch zwei Lehrer, dann ein Lehrer, der zweite war schon gestorben. Und die haben uns dann etwas über ihr Fach erzählt. Und wir saßen in einer Klasse, wo die Fenster am wenigsten kaputt waren, eng beieinander, denn es war eiskalt, und wir hörten unseren Lehrern und deren verschwindenden Stimmen zu. Und an einem dieser Tage, als nur noch wenige von uns übrig waren, kam ein Mann herein, ein abgemagerter Mann in einem wattierten Mantel. Er bat den Lehrer um Erlaubnis zu uns sprechen zu dürfen. Und er fragte uns: Wer von euch kann eine Strecke von etwa sieben Kilometern laufen? Nun, obwohl wir natürlich schon ziemlich erschöpft waren, sind wir natürlich alle sofort aufgestanden, es waren acht oder neun von uns. Die Mädchen wurden sofort aufgefordert, sich zu setzen, nur die Jungen blieben übrig.

Und er erzählte uns, dass die Deutschen im Prinzip nicht in die Stadt eindringen konnten, aber es weiterhin versuchten. Denn es stellte sich heraus, dass die deutsche Abwehr herausgefunden hatte, dass es einige Teile der Stadt gab, wo keine regulären Truppen waren, und sie dort eine Panzerkolonne hinschicken konnten. Dort waren unsere Panzerjäger. Panzerjäger sind Leute mit Panzerabwehrgewehren, deren Gewehre mit Artilleriegranaten versorgt werden müssen.

Diese Panzerjäger versteckten sich in zerstörten Häusern rund um die Stelle, an der die [deutschen] Panzer durchbrechen sollten. Nach den Gesetzen der Artillerie mussten die Granatenlager in einiger Entfernung vom Panzerjäger liegen. Und hier mussten wir diese Granaten je nach Bedarf zum Panzerkanonier bringen. Als wir an den Ort kamen, sahen wir dort, wir wollten, wir dachten, wir würden dort Kämpfer wie aus den Märchen sehen, mit automatischen Gewehren, in Mänteln. Es stellte sich heraus, dass es alte, erschöpfte Arbeiter in wattierten Jacken waren, die sich mit diesen panzerbrechenden Gewehren in die Ruinen legten und auf die Annäherung der deutschen Kolonne warteten.4

“Auf den Fensterbänken lag eine dicke Schneeschicht.”

Endlich zeigte sich die Kolonne. Die Kolonne bewegte sich im sogenannten Schwein, das heißt, vor dem Kopfpanzer, weiter 2-3 [Meter] und so weiter. Wie viele Panzer das waren, kann ich jetzt nicht genau sagen, aber ungefähr mehr als zehn Panzer. Und dann fingen sie an, unsere Stellung anzugreifen, aber es fielen immer noch keine Schüsse. Wir dachten schon, dass die Panzer sowieso vorbeikommen würden und wir umsonst hier wären. Aber dann, als die Panzer fast auf gleicher Höhe mit uns waren, ertönte ein Schuss und aus dem Hauptpanzer schoss eine Flammensäule heraus, der Turm flog einige Meter hoch. Und nur wenige Sekunden später ertönte ein weiterer Schuss und der zweite Panzer zitterte und blieb stehen. Und die Sache war die, dass die Verteidigung diesmal offenbar von einem Mann geführt wurde, der offensichtlich Erfahrung in der Kriegsführung hatte. Und als ich sah, dass auch der zweite Panzer angehalten hatte, schaute ich mich um und sah, dass mein Arbeiter die Hand gehoben hatte und rief: “Mehr Granaten“.

Ich steckte ein paar Granaten in meine Tasche, drei oder vier Stück, sie waren klein. Ich konnte sie tragen und kroch zu meinem Arbeiter. Aber irgendwo auf halber Strecke, nicht weit von mir, explodierte eine Panzergranate. Ich war zwar nicht betäubt und nicht mit Erde überschüttet, aber es drückte mich in den Boden, und als ich zu mir kam, sah ich mich ein wenig um und kroch mit diesem Netz mit Granaten weiter. Als ich zu der Stelle gelangte, wo mein Panzerkanonier hätte sein sollen, sah ich nur einen Haufen zerbrochener Ziegel. Nicht weit entfernt lag ein blutiger Filzstiefel, aus dem der Rest eines Beins ragte, und ich sah, dass ich an die falsche Stelle gekrochen war. Als ich mich in den Boden drückte, verlor ich die Orientierung, jetzt sah ich, dass mein Panzerkanonier noch dreißig Meter weiter links war. Ich kroch zu ihm, dabei rief ich nach ihm, aber er antwortete nicht. Ich kroch näher und sah, dass seine Hand mit Daumen und Zeigefinger auf dem Abzug des Gewehrs lag, sein Kopf lag auf dem Kolben. Er war tot. Er war nicht verletzt, um ihn herum war nichts zerbrochen, was darauf hingewiesen hätte, dass er von Schrapnells oder Granaten getroffen worden wäre. Er war einfach verhungert, wie so viele, die mit diesen Gewehren lagen […]

Die Öfen und die Bücher

Es war wahrscheinlich das letzte Mal, dass ich mich bewegte, und dann konnte ich mich nicht mehr bewegen. Meine Mutter steckte mich unter mehrere Decken, und wir schliefen bekleidet, um uns so warm wie möglich zu halten. Wir hielten uns mit Hilfe von so genannten Burzhujkas warm. Burzhujki – sie waren aus Eisen, solche genieteten kleinen Öfen, das Rohr ging zum Fenster hinaus. Zuerst haben wir sie angeheizt, natürlich gab es kein Brennholz, also haben wir sie mit Möbeln angeheizt, die wir in Scheite zerlegt haben. Doch auch zerbrochen ließen sich die Möbel nicht durch Streichhölzer entfachen, denn sie waren gefroren. Die Wohnung war völlig vereist. Wir tranken Wasser, indem wir Schnee von den Fenstern kratzten, es lag eine dicke Schneeschicht auf den Fenstern, wir kratzten sie ab, erwärmten sie auf unseren Handflächen und tranken dieses Wasser. Diese Burzhujka-Öfen mussten also irgendwie mit diesen Scheiten, Spänen von zerbrochenen Türen, Stühlen, Stangen und so weiter geheizt werden, aber sie wollten kein Feuer fangen. Also mussten wir Papierdochte aus Bücherseiten basteln und sie mit Streichhölzern anzünden. Und mit diesen Dochten zündeten wir die Späne an. Nun, als wir zu den Bücherregalen kamen, um einige Bücher zu nehmen, um die Blätter zu zerreißen, haben wir natürlich Puschkin, Lermontow, Tolstoi weggerückt, weggerückt, weggerückt, in der Hoffnung, dass sie nicht sterben würden und dass sie doch überleben sollten.

Die Evakuierung

Aber am Ende waren wir praktisch allein in der Wohnung, meine Mutter, meine Großmutter und ich. Denn all die anderen Leute, und es waren 14 Leute, Onkel Andrej hatte eine große Familie, die alle starben. Zuerst haben wir sie [die Verstorbenen] zur Treppe gebracht, dann konnten wir sie nicht mehr zur Treppe bringen. Wir haben sie aus dem Korridor herausgeschleppt, von Zimmer zu Zimmer, aber dann ging auch das nicht mehr. Und schließlich kam die Zeit, in der meine Mutter kein Brot auf Karten bekommen konnte. Das heißt, unsere Tage waren nicht nur gezählt, unsere Stunden waren bereits gezählt, das war klar. Und genau zu dieser Zeit hörten wir vom Hof her ein Rumpeln, als ob ein Auto fahren würde. Natürlich waren wir sehr erschrocken, denn es war klar, dass die städtischen Verkehrsmittel nicht fuhren, woher das Auto kam, ob die Deutschen wirklich in die Stadt gestürmt waren. Aber nach einer Weile hörten wir Schritte auf der Treppe und Rufe: “Lebt hier jemand, lebt hier jemand?” Mutti kroch zur Tür und gab flüsternd ein Lebenszeichen.

Sie kamen herein. Sie zogen uns an in alles, was sie hatten, brachten uns in den Hof, setzten uns in den Schnee, und aus der Wohnung holten sie Teppiche, Decken, alles, was warm war, und legten es ins Auto. Darauf setzten sie dann uns, bedeckten uns mit diesen Teppichen und brachten uns weg. Wie wir später herausfanden, fuhren sie uns zum Finnischen Bahnhof, wo ein Zug stand, mehrere Waggons, und wir fragten: “Was, wird etwa evakuiert? Ist die Blockade durchbrochen?“ Nein, sagten sie, die Blockade ist noch nicht durchbrochen, aber es gab einen Korridor. 

Dieser Fluchtweg war die Eisstraße, die Straße des Lebens, über die wir evakuiert werden mussten. Dort wurden wir aus dem Zug ausgeladen. Am Ufer standen halb bedeckte Lastwagen. Das sind eineinhalb Tonnen schwere Lastwagen. Wir wurden auch dort verladen und warteten auf die Dunkelheit, und in der Dunkelheit setzten wir uns in Bewegung. Die Kolonne bewegte sich über den Ladogasee, auf dem Eis des Ladogasees. Und alles war gut.

Etwa auf halber Strecke verschwand plötzlich der vordere Wagen, unser Wagen war der zweite, der vordere Wagen verschwand plötzlich auf der Stelle. Und wir wurden dadurch gerettet, dass es erstens schon dunkel war und die Luftwaffe nachts nicht so oft flog, zweitens war es bewölkt und bei solchem Wetter funktionierten die deutschen Luftangriffe überhaupt nicht. Aber es gab noch eine andere Gefahr. Auf der Straße des Lebens gab es Löcher im Eis von Bombeneinschlägen. Und hier war die Front, und es war schon dunkel, es schneite, und die Fahrer waren müde, schlaflose Nächte, sie fuhren nicht aufmerksam hin und her. Natürlich hat der Fahrer dieses Loch nicht bemerkt, und das Auto stürzte sofort ins Eisloch, niemand konnte entkommen, natürlich. Unser Auto begann sich zu verlangsamen. Aber es war glatt auf dem Eis und unser Auto rutschte fast in dieses Loch und war schon mit den vorderen Rädern unten, aber es setzte sich auf den Rahmen und bewegte sich nicht weiter. Buchstäblich in ein paar Minuten kamen die Flakschützen angerannt. Entlang der Straße – der Straße des Lebens – standen Flakgeschütze in einigem Abstand zueinander. Und sie rannten auf uns zu, wir wurden aus diesem Auto ausgeladen, auf das nächste Auto umgeladen, und dann erreichten wir das gegenüberliegende Ufer ohne irgendwelche Abenteuer.

“Den Anblick der bis auf die Knochen abgemagerten Menschen konnte ich nie vergessen.”

Tod durch Essen nach der Rettung

Am gegenüberliegenden Ufer stand ein Holzgebäude, ein ehemaliges Kolchos-Haus, in dem sich das Evakuierungszentrum befand. Wir wurden dort buchstäblich auf dem Boden ausgebreitet. Sie gaben uns heißes Wasser, keinen Tee, aber heißes Wasser, gaben uns ein Stück Brot, wir fühlten uns wie im Paradies. Uns war warm, wir wurden nicht bombardiert, es fielen keine Artilleriegranaten mehr auf uns. Wir wussten schon, dass jetzt die Deutschen nicht mehr hierherkommen würden. Darauf fielen die Menschen in eine Art Ohnmachtsschlaf. Am nächsten Tag begannen wir uns darauf vorzubereiten, weiter ins Hinterland geschickt zu werden. Die Vorbereitung bestand darin, dass wir Verpflegung für den Weg auf Vorrat bekamen. Es war eine festgelegte Menge richtiges Brot, ich weiß nicht mehr, wie viel, ein paar Stücke Zucker, ein kleiner Würfel Butter und eine fette Krakauer Wurst. Es war diese fette Krakauer Wurst, die später für viele den Tod bedeutete. Meine Mutter gab jedem von uns ein kleines Stück Brot, etwa siebzig Gramm, ein bisschen Butter und heißes Wasser mit eben diesem Stück Zucker. Den Rest hat sie versteckt. Und als wir in diese Waggons verladen wurden und auf die Reise gingen, haben viele Leute nicht verstanden, dass sie die Lebensmittel rationieren und verstecken mussten. Viele Menschen aßen sie auf, darunter auch die fette Krakauer Wurst. Sie bekamen schreckliche Bauchschmerzen, Durchfall und starben an Ort und Stelle. Sie wurden dann aus den Waggons geworfen, denn man durfte nicht stehen bleiben.

Am Bahnhof Zuevka sollten wir einer Sanitärinspektion unterzogen werden. Da wurden auch noch einmal die Toten herausgeholt. Nicht weit vom Gleisbett, wo unser Zug hielt, standen mehrere Wagen, spezielle Wagen. Sie wurden Entlausungshäuser und Heißwasser-Häuser genannt. Also Heißwasser-Häuser, sie hatten große Kessel darin, die Motoren liefen, das Wasser wurde erhitzt, und daneben standen Schuppen, es waren nicht einmal Zelte, sondern Schuppen. Nur die Decke, es gab keine Wände, und von dieser Decke lief das Wasser. So wurden wir bis auf die Unterwäsche ausgezogen, es waren minus vierzig Grad, trotzdem wurden die Leute nackt ausgezogen. So wurden wir unter die Dusche gestellt. Die Leute haben sich kaum gewaschen. Frauen, die mit gummierten Mänteln bekleidet waren, kamen und halfen uns abzuwaschen.

Erinnerung an den „fremden Körper“

Dann brachten sie uns in ein anderes Zelt, in eine andere Unterkunft. Dort bekamen wir unsere Kleidung, die bereits durch eine Läusemaschine gelaufen war. Das heißt, die heiße Temperatur tötete die Läuse und wir zogen diese warme Kleidung an. Der Anblick dieser Menschen, als sie ausgezogen waren, blieb mir natürlich für den Rest meines Lebens in Erinnerung. Denn nach dem Krieg sah ich viele Bilder aus Auschwitz von Menschen, die bereits gestorben waren. Diese Menschen (aus Leningrad) sahen also fast genauso aus, vielleicht sogar noch schlimmer. Ich meine, sie waren nur noch Skelette, die sich bewegten. Man konnte nicht sagen, wo die Männer waren und wo die Frauen. Denn die Frauen hatten nichts auf den Brüsten, die Männer hatten fast nichts zwischen den Beinen, sie waren also wandelnde Skelette. Und als wir dann aufgewärmt und in diese warmen, läusefreien Kleider gekleidet waren, hatten die Leute diese Glückseligkeit in ihren Gesichtern, die ich danach selten gesehen habe, so glücklich waren die Leute. Sie konnten vor Glück, vor Glückseligkeit, nicht einmal sprechen. Wir wurden wieder in diese Waggons verladen und der Zug fuhr weiter ins Landesinnere.

“Ich träumte immer wieder, dass vor mir viele Teller mit Brei lagen… das war Folter.”

Über den Hunger

Das Gefühl des Hungers waren meist halluzinatorische Träume. Ich träumte die ganze Zeit, ich wurde von einem Traum heimgesucht, in dem ich viele Schüsseln Brei aß. Hier, Buchweizenbrei, Grießbrei, Hirsebrei, Gerstenbrei, und ich war wie der Buridans-Esel, ich wusste nicht, mit welchem Brei ich anfangen sollte, und deshalb war ich hungrig, ich wollte essen, aber ich wusste nicht, mit welchem ich anfangen sollte. Das ist der Grund, warum ich hungrig war, nicht, weil es keinen Brei gab, sondern weil ich nicht wusste, mit welchem Brei ich anfangen sollte. Also verfolgten mich diese Träume. Dann haben wir Ledergürtel für die Zubereitung des Essens benutzt, es gab ein paar Schuhreste, etwas Leder, aber das war alles ziemlich schnell verbraucht, aber was uns wirklich gerettet hat war Tischlerleim. Wir waren die einzigen, die noch lebten, wie gesagt, in dieser Wohnung, was wir bei meinem Onkel Andrej gefunden haben, dem Bruder meines Vaters, wir haben ein paar Dosen Tischlerleim in der Speisekammer gefunden. Er hatte noch ein privates Hobby, obwohl er Ingenieur war, er arbeitete in einer Fabrik, er war also nicht mobilisiert, und dieser Leim hat uns gerettet. Wir haben ein paar Löffel davon aufbewahrt, wir haben ein paar Löffel davon in kochendes Wasser getan, es verdünnt und diesen heißen, verdünnten Leim haben wir gegessen und so waren wir gerettet.

Über die Deutschen und über die Pflicht

Zuerst habe ich auf meine Großmutter gehört, die sagte: „Es kann nicht sein, dass Deutschland uns angreift.“ Warum hat sie das gesagt? Warum die Großmutter? Sie hat am Konservatorium studiert, aber sie hat erst ein Praktikum in Deutschland gemacht, ich weiß nicht mehr in welcher Stadt, und dann in Wien, in der Wiener Oper, und so hatte sie eine Vorstellung vom (deutschen) Volk. Und sie sagte nur, dass die Deutschen das nicht können, es ist eine

Kulturnation, wie können sie das tun, es werden alle möglichen Gräueltaten erzählt, aber sie können es einfach nicht tun, sie sind wohlerzogene Menschen, anständige Menschen.
Ich hatte also die Vorstellung, dass sie anständige Menschen sind, und dann stellte sich etwas anderes heraus, in meinem Kopf gab es völligen Widerspruch. Meine Oma sagte das eine, und in Wirklichkeit war es ganz anders. Und trotzdem waren wir natürlich sicher, dass Leningrad nicht aufgegeben werden würde. Ich war sicher, dass unsere Rote Armee Leningrad nicht aufgeben konnte. Also muss ich, solange ich kann, alles in meiner Macht Stehende tun, um unserer tapferen Roten Armee zu helfen, Leningrad nicht aufzugeben. Sie wird es nicht tun, und ich werde ein Teil davon sein.