Über die Blockade
Sankt Petersburg, einst als Leningrad bekannt, spielte während des Zweiten Weltkrieges eine entscheidende Rolle. Die Stadt, die für ihre prächtigen Paläste und breiten Alleen bekannt ist, wurde zwischen 1941 und 1944 zur Bühne einer der längsten und verheerendsten Belagerungen der Geschichte.
Beginn des Krieges
Vernichtungskrieg
Belagerung
Kein Entkommen
Evakuierung
Straße des Lebens
Rote Armee
Hunger
Kindheit in der Blockade
Beginn des Krieges
Eigentlich waren NS-Deutschland und die Sowjetunion durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag seit dem 23. August 1939 Verbündete. Doch die NS-Führung propagierte das Bild der Sowjets als „Feind Nr. 1“ in einem angeblichen Krieg um die deutsche Existenz. Trotz des Nichtangriffsvertrags verfolgte Hitler das Ziel der Vernichtung des “jüdischen Bolschewismus” (ein Feindbild, das Judenhass und die Feindschaft gegen die Sowjetunion vereint). Dafür wurden die Wehrmachtssoldaten mobil gemacht − das Ziel: die Vernichtung des Feindes.
Vor dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 stimmten Hitler und die Generäle die Soldaten auf eine verbrecherische Kriegsführung ein: Mit Erlassen wurden sie von Bindungen an Völkerrechtsnormen und bisherigen Verboten von unangebrachter Grausamkeit befreit. Rücksichtslose Willkür- und Gewaltakte gegenüber der sowjetischen Bevölkerung waren somit von Beginn an fest einkalkuliert.
Deutsche Wehrmacht marschiert in die Sowjetunion ein, 22.6.1941
Vernichtungskrieg
Der deutsch-sowjetische Krieg von 1941–44 wird in der Geschichtsschreibung als Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion charakterisiert. Wieso?
Bereits beim Angriff auf die Sowjetunion wurden klar definierte Bevölkerungsgruppen sofort vernichtet: jüdische Menschen, Parteiamtsträger, psychisch Kranke und Menschen mit Behinderungen, Sinti:zze und Rom:nja sowie willkürlich als „Partisanen“ (Widerständler) selektierte Bewohner.
Als „Partisanenhelfer“ wurden während der sogenannten „Sicherung“ der Gebiete auch Frauen und Kinder zu Tausenden gequält und ermordet. Der flächendeckende hemmungslose Terror in den Partisanengebieten kostete etwa einer halben Million Menschen das Leben, vor allem in Belarus und im westlichen Teil Russlands. Auch die Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener gehört zu diesem Verbrechenskonzept: In den Lagern des deutschen Operationsgebietes mussten die Angehörigen der Roten Armee verhungern. Von insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen sind drei Millionen an Hunger und Krankheiten gestorben.
Sowjetische Zivilist:innen sah die deutsche Führung ausschließlich als „Seuchen- und Ernährungsproblem“ – wenn sie sich nicht als Arbeitssklaven ausbeuten ließen, wurden sie auch nicht versorgt. Sollten besetzte Gebiete demnach „ohne Bedeutung für die großdeutsche Kriegswirtschaft“ sein, wurden sie von der Versorgung ausgeschlossen und ihre Bewohner dem Hungertod ausgeliefert. Man ließ vor allem in den Städten Menschen am Hunger sterben: Durch das Vorgehen in Leningrad – die Belagerung der Stadt, die keinem militärischen Ziel folgte – sollte die Bevölkerung gezielt ausgehungert werden.
Die Vernichtung gewann als Strategie abermals an Bedeutung, als die deutschen Besatzer ihren „Lebensraum“ wieder verließen: Dörfer wurden niedergebrannt, Industrieanlagen zerstört, Brücken gesprengt, Brunnen vergiftet, zivile Infrastruktur zerstört, Böden vermint. Ressourcen, Produkte und Menschen nahmen die Besatzer mit – noch bis in die letzten Kriegsmonate mussten die verschleppten Menschen Zwangsarbeit für die deutsche Kriegsindustrie leisten.
Belagerung
Warum wurde im Falle Leningrads die Belagerung als Kriegsstrategie ausgewählt?
Von Anfang an spielte Leningrad eine zentrale Rolle in den Kriegsplänen Hitlers. Die Wiege des Bolschewismus sollte als erste russische Großstadt „dem Erdboden gleichgemacht“ werden. Hitler und seine Generäle rechneten damit, dass die Operation Barbarossa – der „Russlandfeldzug“ – nur wenige Wochen dauern würde. Bereits im Spätsommer 1941 war klar, dass die Blitzkriegstrategie gescheitert war. Man bereitete sich auf einen längeren Krieg vor, bei dem sich, so war es in der kalkulierten Hungerpolitik vorgesehen, die Wehrmacht restlos aus den besetzten Gebieten ernähren musste. Die Bewohner:innen der Städte – allen voran Leningrad und Moskau – erschienen als überflüssige Esser.
Die Blockade der Stadt durch die Wehrmacht im Süden und den Finnen im Norden begann am 8. September 1941. Hitler fasste den Beschluss, dass die Stadt nicht erobert, sondern abgeschlossen und durch Hunger und Artilleriebeschuss aus der Luft vernichtet werden sollte. Sollte ein Kapitulationsangebot Leningrads erfolgen, so sollte es abgewiesen werden. Die städtische Bevölkerung musste verhungern, die entvölkerte Stadt den Finnen übergeben werden. Der Hungertod aller Leningrader Bewohner:innen war also eingeplant und wurde von den Nazis erwartet.
Kein Entkommen
Hätte die sowjetische Führung die Stadtbewohner retten können?
Nein. Hitlers Befehle sahen vor, dass selbst im Falle einer Kapitulation der Verteidiger Leningrads die Stadt nicht einzunehmen wäre. In jedem Fall wäre die Blockade aufrechtzuerhalten. Kein deutscher Soldat sollte einen Fuß in der Stadt setzen. Laut dem offiziellen Briefwechsel gab es „kein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils der großstädtischen Bevölkerung.“ So sollte ein eventuelles Kapitulationsangebot der Stadt nicht angenommen werden. Zugleich schufen die NS-Militärs den Mythos von „fanatischen“ Verteidigern der Stadt und um ein „Halten um jeden Preis“ seitens Stalin, um ihr eigenes Verbrechen zu vertuschen. Dies wiederum führte auf der sowjetischen Seite zu den Gerüchten, dass die Stadt gerettet werden könnte, hätte man bloß kapituliert. Das stimmt nicht, und zudem hatte die Rote Armee mit dem Volkswehr immer wieder versucht, den Belagerungsring durchzubrechen.
Wie sahen die deutschen Militärangehörigen das Geschehen vor Leningrad?
Über die Haltung der deutschen Militärangehörigen zu den Menschen in Leningrad gibt folgende Quelle eine aufschlussreiche Erkenntnis:
„[es] wurde die Frage aufgeworfen, wie man sich zu verhalten hat, wenn die Stadt Leningrad ihre Kapitulation anbietet und wie man sich gegenüber der aus der Stadt herausströmenden hungernden Bevölkerung verhalten soll. In der Truppe bestehe volles Verständnis dafür, dass die Millionen Menschen, die in Leningrad eingeschlossen seien, von uns nicht ernährt werden können, ohne dass sich dies auf die Ernährung im eigenen Land, also Deutschland, nachteilig auswirkt. Aus diesem Grunde würde der deutsche Soldat auch mit Anwendung der Waffe derartige Ausbrüche verhindern. Nur zu leicht könne das aber dazu führen, dass der deutsche Soldat dadurch seine innere Haltung verliert, d.h. dass er auch nach dem Krieg von solchen Gewalttätigkeiten nicht mehr zurückschrecke.“ 1
So ist in den Aufzeichnungen der deutschen Wehrmachtsgeneräle vor Leningrad in Bezug auf die Zivilbevölkerung lediglich von der Sorge zu lesen, dass das Erschießen von aus der Stadt fliehenden Frauen, Kindern und wehrlosen alten Männern die dort eingesetzten deutschen Soldaten traumatisieren würde. So schlug Oberkommando des Heeres vor, vor den eigenen Linien Minenfelder auszulegen, um den Truppen den unmittelbaren Kampf gegen die Zivilbevölkerung zu ersparen.2
2. Ebd., S. 44.
Evakuierung
Könnte man die Bevölkerung dann zumindest durch Evakuierungen retten?
Nicht von ungefähr spielt die Evakuierung so eine zentrale Rolle in den Erinnerungen der Zeitzeug:innen in diesem Projekt. Für sie alle war sie lebensrettend. Diese Seite der Blockade stand jedoch lange im Schatten des Hungerschreckens und wird deswegen nur bruchstückhaft erinnert.
Eine Massenevakuierung war nur in den ersten Kriegswochen möglich, und die ersten, die aus der Stadt herausgebracht werden sollten, waren Kinder. Am 29. Juni 1941 verabschiedete das Leningrader Stadtexekutivkomitee einen Beschluss „Über den Abtransport von Kindern aus Leningrad in die Leningrader und Jaroslawler Gebiete“. 390.000 Kinder sollten aus der Stadt herausgebracht werden. Am gleichen Tag wurden etwa 15.000 Kinder in zehn Zügen evakuiert.
Nachdem die Eisenbahnverbindung am 27. August unterbrochen wurde, hatten bereits 488.703 Leningrader die Stadt verlassen: meistens Kinder in Kindergarten- und Schulkollektiven sowie aus Kinderheimen. An Erwachsenen evakuierte man in erster Reihe Facharbeiter, Ingenieure, Betriebsverwalter, Sowjet- und Parteibeamte. Die Leningrader Evakuierungskommission war für alle Fragen zuständig – von der Herstellung der Lebensmittelkarten über die Bestimmung der Zielorte der Evakuierung. Bis zur Eröffnung der „Straße des Lebens“ über den Ladogasee wurden Leningrader per Schiff und Flugzeug aus der Stadt evakuiert. Somit war die Zahl der Evakuierten begrenzt: ca. 30.000 gelang es, die eingekesselte Stadt zu verlassen.
Um die geografische Lage besser zu verstehen, schau dir die Karte unten an.
Straße des Lebens
Was genau war die „Straße des Lebens”?
Die Einrichtung der Rettungsstraße über den zugefrorenen Ladogasee wurde am 19. November 1941 vom Militärrat der Leningrader Front entschieden. Die 30 Kilometer lange Straße ging vom Kap Osinovec über die Zelency-Insel und teilte sich in Richtung der Orte Kobona und Lavrovo. Die erste Autokolonne ging bereits am 22. November über das Eis, sie brachte Menschen hinaus und Brot herein. Doch es fehlte an Autos, die die Menschen über den See transportieren konnten. Leningrader mussten in den Siedlungen am Westufer vom Ladogasee tagelang ausharren, einige versuchten, selbständig zu Fuß auf die gegenüberliegende Seite des Sees zu gelangen und erfroren unterwegs.
Erst Ende Januar 1942 begann dann die Massenevakuierung über die Autostraße auf dem zugefrorenen Ladogasee. Sie funktionierte bis April 1942. Der Weg der Evakuierten ging über mehrere Stationen und war ungemein mühsam und riskant. Zunächst musste man vom Finnischen Bahnhof bis zur Station Borisova Griva mit der Bahn fahren. Der Weg führte über den Ladogasee bis zu den Evakuierungspunkten an seinem östlichen Ende, dann wieder weiter mit der Eisenbahn ins Hinterland. Schon der Weg zum Bahnhof war für die erschöpften, hungrigen Menschen eine Qual – nichts fuhr und die Strecke war zu Fuß zu bewältigen, mit Hab und Gut auf den Schlitten. Am Finnischen Bahnhof angekommen, musste man stunden- wenn nicht tagelang in unbeheizten Wartehallen auf den Zug warten.
Besonders gefährlich war die Fahrt mit der Bahn von Leningrad bis zum Ladogasee: Die Strecke, die normalerweise ein paar Stunden einnimmt, dauerte nun Tage. Die Züge wurden gnadenlos von Deutschen beschossen und bombardiert – obwohl sie getarnt wurden, waren die Dampfspuren doch zu erkennen.
Die unbeheizten Züge mit ausgemergelten, erschöpften Menschen konnten sich nur langsam fortbewegen – viele starben unterwegs. Ihre Hoffnung, das Hinterland zu erreichen, sich satt zu essen und durch die Evakuierung zu überleben, konnte sich nicht erfüllen. Insgesamt wurden auf den Eisenbahnstationen Borisova Griva und Ladozhskoe Ozero fast 3.000 Menschen, die in den Zügen starben, beigesetzt. Auch an den Evakuierungspunkten starben Menschen: nach der langen Zeit des Hungerns vertrugen sie die dort verfügbare Nahrung nicht mehr. Ihre Mägen waren nicht mehr auf das fettige Essen und die größeren Mengen vorbereitet.
Im Februar 1942 wurden 117.500 Menschen evakuiert und im März – 222.000 Menschen. Insgesamt wurden in der Zeit vom 29. Juni 1941 bis zum 15. April 1942 970.718 Leningrader evakuiert. Vom 27. Juni 1941 bis zum 4. Dezember 1943 wurden insgesamt etwa 1,5 Millionen Leningrader aus der Stadt herausgebracht.
Rote Armee
Was hat die Rote Armee unternommen, um die Stadt zu befreien?
Nach dem Weiterrücken der Wehrmacht Richtung Moskau war Leningrad lediglich ein Nebenkriegsschauplatz, auch wenn die Wehrmacht immer wieder versuchte, den Belagerungsring enger zu ziehen. Vor allem ab Spätherbst 1942 verschärften sich die Kämpfe um Leningrad, da die Rote Armee versuchte, den Belagerungsring zu durchbrechen. Die Leningrader hofften auf eine baldige Befreiung der Stadt. Die Zeit, die man in den Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften verbrachte – anfangs Stunden, dann Tage – war die Zeit des intensiven Austausches über die Kämpfe vor Leningrad. Die spärlichen Gerüchte stifteten Hoffnung auf eine baldige Befreiung der Stadt.
Die Hauptkämpfe fanden auf dem Brückenkopf “Newski-Pjatatschok” statt – einem schmalen, 500 bis 800 Meter breiten und etwa 2,5 bis 3 Kilometer langen Landstreifen am linken Ufer der Newa, der von den Truppen der Leningrader Front gehalten wurde. Das gesamte Gebiet wurde vom Feind beschossen, und die sowjetischen Truppen, die ständig versuchten, diesen Brückenkopf zu erweitern, erlitten schwere Verluste. Insgesamt starben in den Jahren 1941–1943 etwa 50.000 sowjetische Soldaten auf dem “Newski-Pjatatschok“. Die 18. Heeresgruppe der Wehrmacht hielt das Land fest in ihrer Hand, sodass die Leningrader Front sich nicht mit der Volchover Front vereinigen konnte – dabei betrug die Distanz zwischen ihnen zeitweilig nur 14 Kilometer.
Erst am 18. Januar 1943 gelang die Vereinigung der Fronten – die Deutschen wurden von Schlüsselburg am südlichen Ende des Ladogasees zurückgedrängt. Mit diesem ersten Durchbruch der Blockade atmete die Stadt auf – jetzt gab es wieder eine Landverbindung zum „großen Land“ jenseits des Belagerungsrings. Am 27. Januar 1944 wurde Leningrad vollständig befreit – die Artilleriebeschüsse und Luftangriffe fanden ihr Ende. Zu diesem Anlass feierte die Stadt ihren zweiten Geburtstag mit einem prächtigen Feuerwerk.
Hunger
Wie sah der Alltag der Menschen in der belagerten Stadt aus?
Der Hunger war in Leningrad sehr früh zu spüren: Die erste Lebensmittelrationierung erfolgte im September 1941 – und bis November 1941 wurden die Normen für die Lebensmittelausgabe fünfmal gesenkt.1 Nach der Einnahme von Tichvin, als die komplette Abriegelung drohte, wurde die niedrigste Brotration während der gesamten Zeit festgesetzt – 250 Gramm auf die Arbeiterkarte, 125 Gramm für die Angehörigenkarte (Personen ohne eigenes Einkommen und Kinder, Angestellte). Dabei war dieses Brot kein reines Brot, sondern bestand aus unterschiedlichen Beimischungen – Kleister, Sülze und Zellulose.2 Doch bereits vor der Festsetzung der niedrigsten Rationsnorm litt die Bevölkerung unter Hunger. Menschen verarbeiteten alles, was sie hatten, zu Nahrung: Lederwaren, Tapetenkleister, Klebstoff, auch Haustiere wurden gegessen. Die Stadtbevölkerung lebte von der Hoffnung auf eine Erhöhung der Lebensmittelrationen und von den Gerüchten, dass in diesem oder jenem Geschäft der Stadt Lebensmittel ausgegeben würden. Die tagtägliche Suche nach Lebensmitteln wurde zusammen mit der Fortsetzung von Arbeit und Wachdienst zur kräftezehrenden, psychisch belastenden Aufgabe, zumal die meisten Suchgänge mit Enttäuschung endeten. So erinnerte sich Wladimir Admoni, Blockade-Überlebender: „Viele, sehr viele nahmen an dieser täglichen Jagd teil. Und verbrauchten auf diese Weise ihre letzten Lebenskräfte.“3
Die Leningrader verloren rasch an Gewicht, in einigen Fällen bis zu 40%, was mit einer starken Veränderung ihrer inneren Organe und des Gewebes einherging. Zur häufigsten Todesursache in der Stadt wurde die „alimentäre Dystrophie“, die totale Auszehrung des menschlichen Körpers, die unterschiedliche Formen annahm: schreckliche Abmagerung oder schlimme Geschwülste, zunehmende Schwäche oder psychische Erkrankungen.4 In der Stadt herrschte das Massensterben: Im Dezember 1941 verhungerten 53.000 Menschen, im Januar 1942 – 101.583 Menschen, im Februar 101.477, im März 98.966.5 Abgemagerte Menschen brachen auf der Straße zusammen und waren nicht mehr in der Lage aufzustehen: Der Anblick von erfrorenen Toten auf der Straße wurden zum Alltag, ähnlich wie die Bilder von Leichen auf den Schlitten, die die Blockadeerinnerung für immer prägen sollten.6
Unterernährtes Mädchen, Leningrad, vermutlich 1941/42
1. Lomagin, Nikita: Leningrad während der Blockade. In: Jahn, Peter (Hrsg.): Blockade Leningrads 1941-1944. Ausstellungskatalog. Berlin 2004. S. 19-31, hier S. 24.
2. Lomagin, Leningrad während der Blockade, S. 25.
3. Siehe: Admoni, Wladimir: Krieg und Blockade. In: Blockade. Leningrad 1941-1944. Hamburg 1992, S. 161-167. S. 164.
4. Lomagin, Nikita: Leningrad während der Blockade, S. 26, auch: Admoni, Krieg und Blockade, S. 164.
5. Lomagin, Nikita: Leningrad während der Blockade, S. 26.
6. Granin, , Daniil: Kak žili v blokadu. In: Zvezda, 1 /2014, S. 63.
Kindheit in der Blockade
Unsere Zeitzeugen sind alle „Kinder der Blockade“. Gibt es eine spezifische Kindererfahrung in der Blockade?
Das Schicksal der Kinder in der belagerten Stadt ist ein großes Sonderthema in der Blockadeforschung. Vor Kriegsbeginn wohnten 848.067 Kinder in der Stadt.1 Ungefähr die Hälfte der Kinder (311.387) wurde aus der Stadt evakuiert, dabei auch gegen den Willen der Mütter, aber etwa 400.000 sind aus verschiedenen Gründen in der Stadt geblieben.2 Es gibt zwei Erzählarten über das Schicksal der Kinder:
Die eine ist durch den offiziellen Diskurs vorgegeben: Leningrader Kinder seien für die Verteidigung und das Überleben der Stadt nützlich gewesen. Sie haben in den Fabriken gearbeitet, Wachdienst übernommen, Befestigungen gebaut und Gemüsegärten angelegt. Auch ihre primäre Pflicht – gute Schüler:innen zu sein und fleißig zu studieren – haben sie erfüllt. Diese Leitlinie prägte die sowjetische Kinderliteratur über die Blockade. Auch moralisch “richtige” Entscheidungen von Kindern, etwa wenn sie ihr Essen mit anderen teilten, fließt in diese Erzählweise mit ein. Bis heute ist sie ein wichtiger Rahmen für die Erinnerung der Blockadeüberlebenden,3 jedoch nicht von den hier interviewten Zeitzeug:innen, die darüber kaum gesprochen haben und sich auch heute nur ungern daran erinnern.
Denn es gibt noch eine zweite Erzählart: der Fokus auf eigene traumatische Erinnerungen. Das, was am meisten Schmerz hinterlassen hat und unverarbeitet blieb – vor allem der Verlust der Eltern – steht im Zentrum dieser Erzählung. Aber auch weitere traumatisierende Aspekte prägen die Erinnerungen der Zeitzeug:innen: Erinnerungen an Kinder, die von Kannibalen gestohlen wurden, der Anblick der von Mangelernährung gezeichneten Körper und die moralischen Abgründe der Mitmenschen.
Nicht von ungefähr wurde insbesondere ein Kind – ein 11-jähriges Mädchen namens Tanja Savicheva – zur zentralen Symbolfigur der Leningrader Blockade. Tanja notierte in einem Notizbuch, wie ihre Familienangehörigen – Schwester, Oma, Mama, Bruder und zwei Onkel – nacheinander starben. Ihr letzter Eintrag: „Alle sind gestorben. Nur Tanja blieb“. Tanja starb trotz der Evakuierung an den Folgen der Hungerkrankheit, an Skorbut und nervlicher Erschöpfung. Dieses Tagebuch hat einen zentralen symbolischen Wert in der Erinnerungskultur an die Blockade, denn hier konzentriert sich alles, was das Leben in extremis auszeichnet: Das Sterben am Hunger, die Alltäglichkeit des Todes und die Einsamkeit des Kindes. Dieses Schicksal teilten viele Blockadekinder mit Tanja.4 Das Leiden der Kinder wurde auch in Dokumentar- und Spielfilmen über die Blockade in den Mittelpunkt gestellt. Zu den Schlüsselszenen vieler Filme gehören beispielsweise Einstellungen, die ein tot auf dem Boden liegendes Mädchen umgeben von ihren Schulsachen, ein auf der Treppe liegendes totes Kleinkind sowie eine Mutter zeigen, die weinend ihren in ein weißes Tuch gewickelten Säugling am Massengrab abgibt.
2. Kovalchuk V.: Evakuacija naselenija Leningrada letom 1941 // Otechestvennaja istorija. 2000. Nr. 3, S. 17, 22.
3. Siehe Voronina, Pomnit‘, S. 249-264.
4. Dem deutschen Leser sollten die publizierten Tagebücher von Lena Muchina (Berlin 2013) bekannt sein. In der Sowjetunion erschienen paradigmatische literarische Werke von Juri Voronov (Blockada. Kniga stichov / Blockade. Buch der Lyrik 1968), Michail Dudin (Okno, Das Fenster). Das Tagebuch von Juri Rjabinkin, das eine unheroische Perspektive einnimmt, erschien erst nach der Perestroika. Meistens erschienen die Kindererinnerungen in den Sammelpublikationen: Goppe, G. Vzvod moego detstva. Poema o malchischkach blokadnogo Leningrada, M. 1973; Tichonov, N.: Leningradskie rasskazy. L. 1977; Mojzhes A.: Deti goroda-geroja. L. 1974. In der post-sowjetischen Zeit vor allem: Deti i blokada. Vospominanija, fragmenty dnevnikov, svidetel’stva ochevidcev, dokumental’nye materialy. St. Petersburg 2000.