Kurzbiografie lesen

Zinovy Goldberg

Was ist die Blockade?

„Was die Blockade für mich ist? Das ist eine schwierige Frage, aber dennoch kann ich sie so beantworten: Sie behandelt die Zeit meiner Kindheit und erzählt davon, wie wir es geschafft haben, durchzuhalten, und davon, welche Anstrengungen meine Mutter auf sich nahm, damit wir diese Hungersnot überleben.

Diese schreckliche Hungersnot kann man sich heute nicht vorstellen. Die Menschen starben an Ort und Stelle, auf der Straße […] Meine Mutter war natürlich die Rettung, nun ja, und andere Umstände haben geholfen, aber die Sache ist die, dass es eine sehr beschwerliche Zeit in meinem Leben war, und gleichzeitig, na ja, für unsere gesamte Familie, so auch für meine ältere Schwester. Meine Schwester ist mehr als 10 Jahre älter als ich, ich schätze 10–11 Jahre älter. Sie ist die Tochter vom ersten Mann meiner Mutter, aber sie wohnte bei meiner Mutter, und Mamas erster Sohn blieb bei ihrem ersten Mann. Und er lebte irgendwo weit weg von uns. Ich wurde im August 1933 geboren. Der Krieg begann am 22. Juni, im August 1941 war ich also schon acht Jahre alt.

Zinowy Goldberg überlebte Hunger und Kälte der Blockade als er 8 Jahre war. Die Erinnerungen daran stehen ihm heute noch vor den Augen.

Schrecken waren überall zugegen, aber das Schlimmste war natürlich der Hunger – wenn man essen will, es aber nichts zu essen gibt. Und es war nirgends etwas zu bekommen. Dieses Stückchen Brot, das wir bekamen in der Zeit des größten Hungers, Ende November/Dezember 1941 – da wurden die Brotnormen auf ein Minimum gekürzt. Ich persönlich bekam 125 Gramm, meine Mutter erhielt mit ihrer Arbeiterkarte 250 Gramm, meine Schwester studierte am medizinischen Institut und bekam ebenfalls 250 Gramm.1 

Warum? Weil man dachte, dass die Studenten später, na ja, Sanitäter im Krieg werden würden, und somit galten sie als Wehrpflichtige. Und das, obwohl sie vorher am Textilinstitut studiert hatte. Sie hatte großes Glück, sie ging nach Mga, einer Stadt in der Nähe von St. Petersburg, wo Verteidigungsanlagen gebaut wurden – viele davon. Dort arbeitete sie unter vielen jungen Leuten und Menschen, die nicht zur Armee eingezogen wurden, alten Männern, Frauen. Sie errichteten in außerordentlich kurzer Zeit enorm starke Verteidigungsanlagen.2 Die konnten den Vormarsch der deutschen Panzer und der deutschen Armee für mehrere Wochen aufhalten.“

Zinowy erinnert sich an Hunger und Rationen von Brot im Winter 1941/42.

Mama

„Wie hat meine Mutter es also geschafft, dass wir überleben? Ich möchte zwei kurze Geschichten erzählen. Die erste beinhaltet, dass meine Mutter ebenso hungrig war wie wir, auch wenn sie ein bisschen mehr Brot bekommen hat, aber um uns zu unterstützen, hat sie eine Brotkruste genommen und sich unter die Zunge gelegt. Damit schien es ihr, so sagte sie nach dem Krieg, dass sie genug Brot zum Leben habe und ihre Portion Brot dann uns geben könne. Und die zweite Episode, die ich erzählen will, war ein Moment in unserem Leben, als wir dem Tod schon ganz nah waren – erst ich und dann meine Schwester, waren kurz davor, hoch in den Himmel zu fahren. Und das Einzige, was uns helfen konnte, war, dass meine Mutter aus ihren jungen Jahren noch ein paar Goldmünzen übrig hatte. Und sie nahm diesen Vorrat, eine Goldmünze, und ging damit hinaus …

Während dieser Hungersnot gab es auch Märkte, auf denen die Leute Brot und Eintöpfe aller Art anboten – alles.3 Mama hat mit dieser Münze also Essen geholt und rettete mich und meine Schwester – ich erinnere mich noch gut, dass ich mit geschwollenen Händen und Beinen da lag und nicht in der Lage war, zu laufen, zu nichts. Meiner Schwester ging es mit ihren angeschwollenen Händen ganz ähnlich. Und so war meine Mutter in der Lage, uns auf diese Weise zurück ins Leben zu holen.

Während der Hungersnot gab es zudem überaus gefährliche Nebenerscheinungen, für Leningrader, für Blokadniki: so auch eine Krankheit namens Skorbut.4 Natürlich wusste ich als Kind noch nichts davon, aber die Folgen waren bereits sichtbar: Die Leute schwollen an – Skorbut an den Händen erkannte man sofort. Damals gab es keine Apotheken, keine Krankenhäuser, nichts war noch intakt. Unsere Familie, eine gewöhnliche Familie, für die meine Mutter als einfache Arbeiterin in einem Laden beschäftigt war, hatte keine Möglichkeit, sich mit Medikamenten zu versorgen – keine. Und meine Mutter sagte: ‚Lass uns ein Heilmittel suchen und überleben.‘ Und sie schickte mich und meine Schwester los, um in der Nachbarschaft nach Tannenbäumen zu suchen. Wir fanden einige Fichten und von diesen Bäumen schnitten wir diese spitzen Fichtennadeln ab und kochten daraus Tee. Dieser war während der Blockade eine große Hilfe für uns – Tannenbaumtee.“

Zinovy erinnert sich an den Tee aus Fichtennadeln, der ihm von der Skorbut rettete.
Zinovy erinnert sich an Bombardierungen und an eine Episode mit einem Nachbar.

Luftangriffe

„Wie wir die Luftangriffe erlebt haben? Was wir gemacht haben, wenn der Luftalarm losging? Nun, vor dem Luftalarm ertönte das Metronom, das sind diese riesigen Lautsprecher, die überall in der Stadt auf den Straßen aufgestellt waren. Das Metronom erklang und dann heulte die Luftschutzsirene. Was das bedeutete? Der Fliegeralarm ertönte immer dann, wenn deutsche Flugzeuge die Stadt bombardierten – auch seit September [1941], denn die Deutschen standen vor den Toren Leningrads und beschossen verschiedene Stadtteile. In den Nachrichten hieß es dann: Dieser und jener Stadtteil werden heute beschossen, wir bitten alle, sich dort in einen Luftschutzkeller zu begeben.5 Ich erinnere mich nicht mehr genau an jedes Detail, aber die Signale waren unterschiedlich, vermutlich je nach Bezirk, denn die Deutschen beschossen auch unterschiedliche Bezirke, sie hatten ihre eigenen Befehle. Die Bombardierungen ereigneten sich so häufig, dass wir uns im Winter 1941/1942 so an sie gewöhnt hatten und beschlossen, dass es besser ist, nicht länger runterzugehen.

Wir wohnten in einem großen Haus in der Lobatschewski-Straße, einem Eckhaus, dort gab es einen Laden. Nach einem Brand wurden wir in ein Holzhaus […] zu einem alleinlebenden Mann umquartiert. Wir zogen bei ihm ein, und es ereignete sich eine interessante Geschichte, an die ich mich aus irgendeinem Grund erinnere, obwohl es noch andere gab. Wir hatten uns schon an den Beschuss, an diese Alarme, gewöhnt, und meine Schwester und meine Mutter sagten: ‚Gut, lasst uns aufhören, hoch und runter zu laufen, lasst uns hier bleiben.‘ Wir blieben und dieser Mann, er – nun, es war wie eine Wohngemeinschaft, in der wir in einem Zimmer wohnten und er in dem anderen – ging auch nicht runter [in den Keller], obwohl er das zuvor immer tat. Meine Schwester meinte dazu: ‚Weißt du, warum er nicht runtergegangen ist?‘ Ich wusste es nicht. ‚Weil er Angst hat, dass wir die Kartoffeln aus seinem Eimer klauen würden.‘ Ich redete dann mit ihm und beschwichtigte, dass wir nicht planten, seine Kartoffeln zu stehlen. Es reiche uns, dass er uns, wenn er kocht, die Kartoffelschalen im Eimer überlässt. Und dann haben wir diese Schalen gesammelt und meine Mutter hat daraus Püree gekocht.

Kälte

„Nun, die Kälte war schrecklich, es war der Winter 1941/1942. Der Frost erreichte -30 bis -35 Grad Celsius. Es war ein sehr strenger Winter, auch für Leningrad ungewöhnlich.6 Und wir mussten die Kälte auf unserer bloßen Haut ertragen, wir mussten irgendwie überleben. Zu Hause gelang uns das, indem wir uns alle drei zusammen ins Bett legten. Und wir haben uns mit allen Decken und Federbetten zugedeckt und alles auf uns gelegt und dann so tief geschlafen, dass man uns nicht hätte wecken können. Einmal, als unser Haus Feuer fing – wir wohnten im ersten Stock –, wurde ich aus dem Bett geschubst und mir wurde gesagt, ich solle nachsehen, was das für ein Geräusch auf der Treppe sei. Nun, ich fand es heraus und sagte: ‚Es brennt, lasst uns unsere Sachen zusammenpacken und alles durch die Hintertür rausbringen!‘ Die Nachbarn hatten ebenfalls nichts bemerkt […] und ich habe sie geweckt. Ich war acht Jahre alt, und ich habe alle alarmiert: ‚Die Sachen raus, ‚Feuer, Feuer, Feuer, Feuer!‘

„Wie die Wohnungen während der Blockade beheizt wurden? In den Wohnungen gab es sogenannte Burzhuika-Herde – das war ein Eisenherd, meist rund oder eckig aus Eisen.7 In diesen Öfen war ein Rohr, und dieses Rohr ging über den ganzen Raum und ein Stück ragte aus dem Fenster. So wurde geheizt, denn die anderen, städtischen Heizkörper funktionierten natürlich nicht. Und woher sollte man Brennholz nehmen? Das musste man sich irgendwo auf der Straße zusammensuchen. In den zerbombten Häusern konnte man zwar etwas finden, aber wir – und fast alle anderen – haben ihre eigenen Möbel verbrannt.“

„Und wir haben gefroren, wir haben alles angezogen, was wir nur konnten, und legten uns ins Bett. Die Burzhuika, die ich vorher erwähnt habe, haben buchstäblich nur eine halbe Stunde geholfen, maximal eine Stunde. Dann war alles ausgebrannt und sie kühlten ab. Wir haben Wasser auf den Ofen gestellt, ganz oben auf den Herd. Und am Morgen war es dann gefroren. Die Zeit der Blockade habe ich als so leidvoll, schrecklich, grausam und schlimm empfunden – und dann kam noch der Frost hinzu, von der Natur, die Natur fror alles ein.“

Zinovy erinnert sich an die aussergewöhnlich starke Kälte im Winter 1941/42 als Zentralheizung nicht mehr funktionierte.

Zinovy erinnert sich an die Evakuierung und Gefahren von Essen nach langem Hungern.

Hunger

„Ich habe Ihnen ja bereits erzählt, wie sich meine Mutter die Brotkruste unter die Zunge legte. Damit wir diese jämmerlichen 125 Gramm, also eine Scheibe Brot, nicht auf einmal essen, hat sie dieses Brot, diese Brotkruste, vor uns hoch oben im Schrank versteckt. Und dann hat sie nach und nach kleine Stücke herausgegeben, um dieses unendliche Verlangen, alles auf einmal zu essen, irgendwie auszutricksen. Aber einige Menschen waren nicht in der Lage, sich zu zwingen, sich diese kleinen 125-g-Stücke aufzuteilen. Sie haben alles auf einmal gegessen, und dann war das Ergebnis tragisch. Tausende von Menschen starben auf der Straße, in ihren Häusern. Der Frost in diesem Winter war extrem, und … nun, im Frühjahr 1942 fingen sie [die Stadtbehörden] an, zu kontrollieren, ob die Menschen in den Wohnungen noch lebten. Wenn niemand die Türen öffnete und sie aufgebrochen werden mussten, fanden sie erfrorene Leichen auf den Betten vor – wegen des Frosts waren sie nicht verwest. Tote verhungerte eingefrorene Menschen … Hätte es genug Nahrung gegeben, so hätte der Körper der Kälte noch etwas entgegensetzen können. Sie wären in der Lage gewesen, aufrecht zu sitzen – und so erfroren die hungrigen Menschen direkt in ihren Betten, es war schrecklich.“

„In unserer Straße am Finnischen Bahnhof stand ein Wagen, das an ihn gebundene Pferd war geschwächt und konnte ihn kaum ziehen. Ich war, ich weiß nicht mehr, allein oder mit anderen kleinen Jungen draußen. Und plötzlich fiel dieses Pferd um. Der Kutscher versuchte, es hochzuziehen, doch es gelang ihm nicht. Dann begannen alle Leute, die dort standen, zu schreien: ‚Es ist tot, es ist auch verhungert!‘ Tja, und wie aus dem Nichts kamen auf einmal mehrere Leute mit Äxten, mit Messern angerannt und fingen an, dieses halb tote, halb lebende Pferd zu zerlegen. Und das ganze Fleisch wurde zerteilt, und auch ich bin mit meinem kindlichen Verstand nach Hause gerannt, um ein Messer zu holen. Aber als ich wieder dort ankam, war schon alles vorbei, und sie sperrten den Platz ab, damit niemand in die Nähe kam. Das war eine tragische Geschichte, die sich vor meinen Augen abspielte.“

Wir wohnten in einem großen Haus in der Lobatschewski-Straße, einem Eckhaus, dort gab es einen Laden. Nach einem Brand wurden wir in ein Holzhaus […] zu einem alleinlebenden Mann umquartiert. Wir zogen bei ihm ein, und es ereignete sich eine interessante Geschichte, an die ich mich aus irgendeinem Grund erinnere, obwohl es noch andere gab. Wir hatten uns schon an den Beschuss, an diese Alarme, gewöhnt, und meine Schwester und meine Mutter sagten: ‚Gut, lasst uns aufhören, hoch und runter zu laufen, lasst uns hier bleiben.‘ Wir blieben und dieser Mann, er – nun, es war wie eine Wohngemeinschaft, in der wir in einem Zimmer wohnten und er in dem anderen – ging auch nicht runter [in den Keller], obwohl er das zuvor immer tat. Meine Schwester meinte dazu: ‚Weißt du, warum er nicht runtergegangen ist?‘ Ich wusste es nicht. ‚Weil er Angst hat, dass wir die Kartoffeln aus seinem Eimer klauen würden.‘ Ich redete dann mit ihm und beschwichtigte, dass wir nicht planten, seine Kartoffeln zu stehlen. Es reiche uns, dass er uns, wenn er kocht, die Kartoffelschalen im Eimer überlässt. Und dann haben wir diese Schalen gesammelt und meine Mutter hat daraus Püree gekocht.

Zinovy erinnert sich an die erste Begegnung mit dem Tod.
Zinovy erinnert sich an die Episode mit einem gefallenem Pferd.

Allgegenwart des Todes

„Diese Geschichte ist mir passiert. Ich ging mit einem Schlitten und einem Eimer, um Wasser von der Newa zu holen. Es gab kein Wasser, die Wasserrohre der Stadt waren eingefroren, und der Fluss war die einzige Quelle, die wir hatten. Wir wohnten nicht weit von der Newa entfernt, gut 200–300 Meter, in der Nähe des Finnischen Bahnhofs. […] Und ich zog einen Schlitten, noch leer, dabei hatte ich einen Eimer, vielleicht einen Kochtopf, ich weiß es nicht mehr genau. Und als ich am Finnischen Bahnhof vorbeiging, […] kam ein junger Mann auf mich zu. Der Kerl schien mir ein Erwachsener zu sein. Nun, ich bin 8 oder 9 Jahre alt, für mich ist jeder, der 13, 12, 14 Jahre alt ist, bereits ein Erwachsener, ein herangewachsener Mann. Und ich gehe ihm entgegen und ich bin direkt von seinem Blick in den Bann gezogen. Ich schaue in seine Augen, und sie sind so glasig. Kannst du dir das vorstellen? Ich sehe es noch genau vor mir – und plötzlich ist er mir vor die Füße gefallen, und das wars, und schon … Und ich, ich bin nur 8 Jahre alt, ich schleppe mich mit diesem noch leeren Schlitten an ihm vorbei, ich kann ihm nicht helfen, er ist zu Boden gestürzt und das wars. Wahrscheinlich ist er nie wieder aufgestanden, seine Augen waren ganz glasig, ganz glasig. Schrecklich, schrecklich.“

 

Allgegenwart der Erinnerung

„[…] [Aber] diese Erinnerung an das, was passiert ist, wie wir es erlebt haben, wie wir überlebt haben, das ist alles in meinem Kopf. Und natürlich kommen diese Erinnerungen immer wieder hoch, solange ich am Leben bin. Ich weiß nicht, wie es bei anderen ist, aber ich habe sie die ganze Zeit vor Augen, bis heute …“