Anna Michajlowa wurde am 6. September 1930 geboren. Ihre Mutter war Geografielehrerin in einer Schule, ihr Vater arbeitete in einer Druckerei. Die Familie wohnte im Zentrum der Stadt und hatte ein Kindermädchen. Ein tragischer Zufall war, dass die Familie (Anna, ihr fünf Jahre jüngerer Bruder zusammen mit der Mutter) in dem allerletzten Zug, der nach Leningrad noch fuhr, aus der Wolga-Region zurückgekehrt ist. Dort verbrachte die Familie die Sommerferien, wegen des Schulbeginns am 1. September musste die Mutter aber zurückkehren. Als die Familie ankam, war das Verlassen der Stadt nicht mehr möglich, und bald darauf, am 8. September, wurde die Stadt komplett abgeriegelt. Anna ging nicht mehr in die Schule. Sie litt an starkem Rheuma und verbrachte vier Monate im Krankenhaus, was wahrscheinlich lebensrettend war, denn dort bekam sie etwas größere Nahrungsrationen als andere Kinder.
Annas Mutter wechselte ihren Beruf, um als Arbeiterin größere Lebensmittelrationen zu bekommen: Sie wurde zur Fahrerin. Ihren jüngeren Sohn konnte sie im Waisenhaus unterbringen, auch er überlebte die Blockade. Annas Vater und Annas Kindermädchen starben im „Todeswinter“ 1941/42 in der Leningrader Wohnung am Hunger. Anna erinnert sich an die Abwesenheit jeglicher Emotion, als sie zehn Tage lang ihren toten Vater in der Küche liegen sah. Die Hungergefühle überwältigten alles. Sie erinnert sich gut an das Gefühl der Ohnmacht, als ihr Mittagessen aus der Schule gestohlen wurde, an eine in ihrer Nähe eingeschlagene Bombe und an die sterbenden Kinder im Krankenhaus, in dem sie lag. Im Frühjahr 1942 wurde es etwas einfacher, denn man konnte sich mit essbaren Kräutern und im Sommer mit eigenem Gemüse versorgen. Anna blieb während der gesamten Zeit der Blockade in der Stadt. Diese Erfahrung hat sie nachhaltig auch im Alltagsleben geprägt, was den Umgang mit Essen angeht, doch über die Erinnerung daran hat sie mit ihrer Familie nie gesprochen. Auch im Interview versucht sie, ihr Leben nicht auf dieses traumatische Ereignis reduziert wiederzugeben: Sie „erinnert“ sich an ein gemeinsames Restaurantessen mit der britischen Queen, als Kontrastbild zu den schmerzhaften Bildern der Blockade.
Nach dem Krieg studierte Anna Chemie, wurde zu einer angesehenen Chemie-Ingenieurin, heiratete zweimal und bekam eine Tochter. Mit der Familie ihres zweiten Mannes kam sie 1997 nach Deutschland, wo sie bis heute lebt.