Ekaterina Kuznetsova
Geboren 1937, blieb im belagerten Leningrad bis April 1942.
Es war im April 1941, als mein jüngerer Bruder geboren wurde, und als der Sommer kam, blieben meine Eltern natürlich zu Hause, und meine Tante und ich gingen in ein Jugendlager in der Nähe von Borowitschi – Region Nowogorodskaja – und dort verbrachten wir wie üblich den Sommer. Aber sehr schnell begann der Krieg, die Deutschen drangen sehr schnell vor und besetzten alle diese Gebiete, und wir stiegen in einen Zug und fuhren nach Hause nach Leningrad. Auf dem Weg dorthin wurden wir bombardiert, und jeder rannte so schnell wie er konnte, nun ja, ich erinnere mich an eine wahnsinnige Angst – ich kauerte mich so nah wie möglich an den Boden, ich hatte ein rotes gepunktetes Kleid an […]
Der Krieg traf meine Familie: Die erste Person, die starb, war unsere Tante im Februar (1942). Mein Vater war nicht wehrpflichtig, er war mit der Evakuierung von Kindern beschäftigt, als Schuldirektor war er für die Evakuierung von Kindern bevollmächtigt. Er starb am 14. März 1942, und danach begannen wir über eine Evakuierung nachzudenken. Wir fuhren zu unseren Verwandten nach Sibirien. Auf dem Weg dorthin starb mein kleiner Bruder, der noch nicht einmal ein Jahr alt war. Er wurde im April 1941 geboren, und wir fuhren Anfang April los. Nun, irgendwie haben wir es geschafft, aus der Stadt evakuiert zu werden. Wir reisten in beheizten Güterzügen, natürlich, aber erstmal fuhren wir über den Ladogasee mit einem LKW. Das Auto, das vor uns war, geriet in ein Eisloch, es ging unter, aber unser LKW hat es geschafft. Wir haben dann die Leiche meines kleinen Bruders an einer Station abgegeben.
Langsam kamen wir nach Sibirien. Dort bekamen wir ein kleines Haus, in dem wir wohnten. Dort gab es auch einen Gemüsegarten, ich erinnere mich. In Sibirien ist es im Sommer wunderbar – alles wächst, blüht und duftet – Wassermelonen, Melonen, Tomaten, das war alles in unseren Gemüsegärten. Und wir hatten auch ein kleines Stück Land, auf dem mein Großvater Kartoffeln pflanzte, und dann mussten meine Schwester und ich ihm das Mittagessen bringen. Und hier sind wir, zwei kleine Mädchen, etwa 5–6 Jahre alt, diesen langen Weg gegangen, um dem Opa das Essen zu bringen: über den Friedhof, einen großen schönen Friedhof auf einem sandigen Berg. Es war wichtig, denn unser Opa bewachte den Garten – es kam dort nämlich regelmäßig zu Diebstählen. Es war unsere tägliche Aufgabe, Großvater sein Mittagessen zu bringen.
Und meine Mutter hat natürlich sehr viel gearbeitet. Es war unmöglich, eine Stelle als Lehrerin zu bekommen, und sie musste eine Stelle als Verladerin in einer Fleischfabrik annehmen. Ich meine, meine Mutter war 1,50 Meter groß und hatte immer Kleidergröße 36, und sie musste so schwere Gewichte schleppen! Für einen Tag, sagte meine Mutter, gaben sie uns ein Stück Schmalz, kein Brot, und dieses Schmalz hielt uns am Leben […]
Umgang mit dem Tod
Und mein [toter] Vater lag sehr lange in einem Zimmer. Mein Vater lag in einem der Zimmer auf dem Tisch, und in dieser Kälte blieb er dort liegen, und wir warteten auf eine Gelegenheit, ihn auf den Friedhof zu bringen. Ich ging hin und zog mich warm an, nahm einen kleinen Stuhl und ein Buch, setzte mich hin und las meinem Vater vor. Es hieß dann immer: Ich gehe jetzt lesen. Und ich habe tatsächlich vorgelesen, so getan, als ob ich ihm Bücher vorlese und dann etwas erzählt. So lag er über zwei Wochen in unserem Zimmer, dann kam der Schulleiter mit einem Schlitten zu uns und wir haben ihn zum Friedhof gebracht. Übrigens, nach dem Krieg, als wir einmal zurückkamen, da waren wir schon erwachsen, habe ich versucht, diese Stelle, wo er begraben war, auf dem Friedhof zu finden, aber wie der Friedhofsleiter mir sagte, seien alle Gräber aus der Kriegszeit nicht erhalten geblieben, und dass die Archive alle verbrannt seien.
Überleben
Was hat uns das Überleben ermöglicht? Unser Onkel war von Beruf Baumeister und wurde an die Leningrader Front eingezogen. Er war an verschiedenen Bauarbeiten beteiligt, irgendwo baute er Pontons, irgendwo Häuser, irgendwo Brücken. Also generell alles, was irgendwie an der Front gebraucht wurde – das waren die Bauarbeiten, für die er zuständig war. Und während er dort war, ist meine Tante, seine Frau, immer zu Fuß an die Front gegangen, um Verpflegung zu holen, die uns auch unterstützt hat.
Nachhaltige Erinnerung
Die Blockade ist irgendwo so unterbewusst, dass sie sich ganz plötzlich auf ungewöhnliche Weise manifestiert. Aber in unserer Familie hat nie jemand über den Krieg oder die Blockade gesprochen. Ich weiß nicht, ob es ein Versäumnis oder ein anderer Grund war, aber auch in der Schule gab es kein Gerede, keine Erinnerungen. Obwohl ich eine sehr gute Schülerin war, kann ich mich nicht daran erinnern, wie dieser Moment in der Geschichte, als wir ihn durchlebten, irgendwie mehr betont wurde, so wie Kinder heute gebeten werden: “Also, sprecht bitte mit euren Großeltern, damit sie ihre Erinnerungen aufschreiben, wir werden alles sammeln und wir werden ihre Erinnerungen in der Schule haben”. So wie es zum Beispiel meine Enkelinnen haben. In unserer Schule, sogar in der Oberschule, hat nie jemand gesagt, lasst uns Erinnerungen sammeln, lasst uns eine Art Sammelalbum mit den Fotos machen – nie!
Einstellung zum Krieg
Sehen Sie, zu sagen, dass es nie einen Krieg geben wird, heißt nichts zu sagen, denn so stelle ich es auch bei meinen Enkelkindern fest. Denn wie ist es möglich, die Aufmerksamkeit der Kinder heute zu erhalten? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Wissen Sie, zu sagen, dass es nicht genug Brot gab, dass man mit dem Finger Krümel sammelte und die Hände ausbreitete, um zu zeigen, wie viel Brot man essen möchte, jetzt, wenn es ringsherum ein Leben im Wohlstand gibt – das kann man sich nicht vorstellen. Vielleicht sollten einige Filme gezeigt werden, sogar Dokumentarfilme, denn es ist sehr schwierig, der jungen Generation zu vermitteln, dass der Krieg ein Schrecken ist, ein Schrecken für alle, ein Schrecken für alle. Es ist ein Grauen. Worte können es wahrscheinlich nicht ausdrücken, und die Geschichte lehrt uns nichts. Selbst die Geschichte eines jeden Menschen ist wahrscheinlich wenig lehrreich, und was soll man der jungen Generation sagen? Ihr müsst glauben, dass es ein Grauen ist, ihr musst es glauben. Machen Sie sich irgendwie klar, denken Sie selbst nach, nehmen Sie sich ein wenig Zeit, um zu erkennen, was in der Welt im Allgemeinen vor sich geht. Ist es normal, so zu leben? Ja, wenn man selbst in Sicherheit ist, und es einem gut geht, sollte man doch darüber nachdenken, was um einen herum geschieht. Wie können wir dieses Gefühl in uns wecken – nie wieder, nie wieder!?